Fly-Over State of Mind
zur Positionierung der Lehre zwischen Theorie und Praxis
von Moritz Twente
Berlin, Leipzig, Dresden – ein weiter Weg ist es von dort nach Zittau und nach Weißwasser; von Thüringen aus erst recht. Auch darauf bezog sich eine unserer Interviewpartner*innen, als sie die Lausitzen mit dem Begriff fly-over state charakterisierte: Eine Gegend, die man nur über den Blick aus dem Flugzeug und durch die Wolkendecke – bzw. beim Vorbeifahren auf der A13 zwischen Dresden und Berlin – kennt. Für uns trifft im digitalen Semesterprojekt noch nicht einmal das zu, wir haben Weimar nie verlassen.
Doch auch mit einer zweiten Interpretation passt die Metapher für uns als Student*innen: In unseren Projekten müssen wir in der kurzen Zeit, in der wir uns mit einem Thema beschäftigen, eine passende Flughöhe finden, um Konzepte erstellen und zu vermitteln. Kritische Distanz wahren, aber dennoch nah genug dran sein, um ausgewogene Ergebnisse zu erhalten, die eine Wirkung erzielen und transformative Impulse geben können.
Das gilt für uns explizit als Planungsstudent*innen erst recht, denn räumliche Planung an sich ist bereits ein transformativer Prozess: Ihre Verfahren und Instrumente führen idealerweise zu Wegen, unsere Umwelt so zu gestalten, dass es sich in ihr gut leben lässt. An der Universität wird die Planung als solche reflektiert, damit neues Wissen über Strukturen und Prozesse geschaffen und die Profession so auch selbst weiterentwickelt. Mit erprobten wissenschaftlichen Methoden werden Vorschläge erarbeitet, die als Konzepte formuliert und nach außen kommuniziert werden.
Experimente für die Schublade?
Anmerkung von Max: Der ‘unverbrauchte Idealismus’ von Student*innen darf jedoch auch nicht zu Arroganz werden. Denn viele unserer Ideale basieren auf den Erfahrungen unserer persönlichen Lebensrealität, die nicht auf alle Menschen übertragbar ist.
Aus studentischer Perspektive sind unsere in Semesterprojekten erarbeiteten Konzepte sicherlich von einem unverbrauchten Idealismus geprägt, der vielfach von zivilgesellschaftlichem Engagement – das prominenteste Beispiel sind sicherlich Students for Future – genährt wird. Damit steckt hinter der Arbeit nicht nur die Produktion und Reflexion von Wissen, sondern gleichzeitig auch der normative Anspruch, eine bessere Welt zu schaffen. Im universitären Experimentierfeld sind wir selten damit konfrontiert, unsere Konzepte in der Anwendung zu sehen: Die Projektarbeit ist nach dem PDF-Export quasi abgeschlossen, zur Umsetzung würden die Ergebnisse politischen Entscheidungsträger*innen überantwortet.
In Diskussionen auf dieser Ebene sind die Konzepte dann aufgrund ihrer Herkunft aus dem Wissenschaftsbetrieb mit einem Vertrauensvorschuss ausgestattet – für den Moment mal ungeachtet dessen, ob es sich in der Sache um eine Aussage arrivierter Wissenschaftler*innen oder von Studienanfänger*innen dreht – und stehen „oft hegemonial gegenüber anderen im Diskurs vorgetragenen Werten“ (Selk et al. 2019: 48).
Die Bemühungen der transformativen Wissenschaft würden zur Depolitisierung der Transformation führen.
Mehr zu transformativer Wissenschaft und zur Demokratisierung von Wissenschaft kannst Du z.B. beim Wuppertal-Institut lesen.
Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik
Weshalb ist das ein Problem? Einerseits, weil die Forscher*innen, deren Arbeit sich die Politik bedient, nicht demokratisch legitimiert sind – was den wissenschaftlichen Erkenntnissen ebenfalls fehlt, sobald sie von politischen Akteur*innen als Kompass für ihre Arbeit genutzt werden. Weil aber daraus für alle Bürger*innen geltende Gesetze entstehen, sollten die vorgebrachten Argumente aus allen Perspektiven geprüft und ggfs. angepasst werden. Und das ist die Aufgabe von gewählten Politiker*innen.
Andererseits liegt einem Entscheidungsprozess, der auf Antwortlieferungen von Fachleuten beruht, ein Wissenschaftsverständnis zugrunde, das Wissen nach ‚Nützlichkeit‘ priorisiert (vgl. Strohschneider 2014: 181), von einem absoluten Verlässlichkeitsanspruch an die generierten Daten ausgeht und die Notwendigkeit der „prinzipiellen Selbstinfragestellung“ (ebd.) wissenschaftlicher Arbeit nicht berücksichtigt.
In einem dreiteiligen Podcast beleuchtet die Zeitschrift Nature das Verhältnis von Politik und (Natur-)Wissenschaften.
Indem aber die (nicht mehr) politische Debatte über die Transformation in wissenschaftliche Expert*innengremien ausgelagert wird, kann ein Irrtum oder ein nicht unmittelbar anwendbares Ergebnis kaum mehr toleriert werden. Schließlich ist der Forschungszweck die Formulierung von gesellschaftlichen Entwicklungspfaden. Darüber hinaus entsteht ein Anspruch an wissenschaftliche Arbeit, kurzfristig und an gesellschaftliche Erfordernisse angepasstes Wissen zu produzieren. So wird die geringe Toleranz gegenüber Fehlern nicht nur verschärft und der Platz für Selbstreflektion und Methodenkritik minimiert, sondern der gesamte Prozess wird beschleunigt. Mit Blick auf Hochschulen, die schwerfällig durch langfristige Strategie- und Finanzierungsverträge manövrieren, wo Forscher*innen unter dem Damoklesschwert Wissenschaftszeitvertragsgesetz arbeiten, können durch und durch transformative und partizipative Forschungsprozesse kaum erwartet werden (vgl. Interview Zivilgesellschaft 2020: 133–142).
»Das WissZeitVG führt zu einem dem Wissen-schaftsdiskurs und letztlich dem Gemeinwohl abträglichen Egoismus, weil nahezu jede_r irgend-wann seine Ideale verliert und notgedrungen nur an sich selbst denkt. Die Produktivität von Forschung als Gemeinschaftsprojekt bleibt dadurch auf der Strecke.« – Nr. 33 der 95vsWissZeitVG
Vier Vorschläge an Studium und Lehre
Für derart umfassende Problemfelder lassen sich zahlreiche Angriffspunkte finden. Ich werde im Folgenden vier Vorschläge formulieren, die konkret auf die wissenschaftliche Ausbildung (von Planer*innen an der Bauhaus-Universität Weimar) abzielen. Diese Perspektive ist einerseits unserer eigenen Position als Student*innen geschuldet, entstand andererseits im Bewusstsein dessen, dass die Mehrheit unserer Kommiliton*innen unterschiedliche, nicht-akademische Berufswege einschlagen wird.
Da davon auszugehen ist, dass wir uns auch in forschungsfremden Arbeitsfeldern zu wissenschaftlichen Erkenntnissen verhalten müssen, kann es nur vorteilhaft sein, in das Studium eine vertiefte Auseinandersetzung über Funktionsweisen und Anforderungen an wissenschaftliche Prozesse und Wissenschaftskommunikation zu integrieren.
Der erste Vorschlag begründet sich aus der Erfahrung, dass radikale und überraschende Überlegungen Resultate von Auseinandersetzungen mit explizit unbekannten, oder vielleicht besser: ungewohnten Settings sind. Bei der Beschäftigung mit großmaßstäblichen, wissenschaftlich und journalistisch breit rezipierten Untersuchungsgegenständen verfällt man nur zu leicht den Hochglanzprojekten des Stadtmarketings oder den entsättigten Renderings autonom an Bike-Sharing-Stationen vorbeifahrender Busse, die zur Semesterausstellung Jahr für Jahr auf Fabriano-Papier geplottet werden. Um out of the box-Ergebnisse zu bekommen, muss man auch andere Dinge anschauen als die immer gleichen Kartons.
Für uns bot sich der gewählte Untersuchungsraum auch in diesem Sinne an: Zwar sicher nicht frei von Vorurteilen, aber dennoch ergebnisoffen näherten wir uns den Lausitzen – für alle fünf von uns terra incognita. Der ziemlich unbekannte Themenkomplex in einer unbekannten Region: Prinzipiell ideale Voraussetzungen, um von in vorherigen Semestern erlernten bzw. erarbeiteten Lösungsansätzen und Handlungsstrategien auszubrechen (vgl. Strohschneider 2014: 185).
Raus aus der Comfort Zone!
Einen langen Atem haben!
Zweitens würden wir Student*innen von einer stärkeren Rückkopplung unserer Projektarbeiten in den jeweiligen Untersuchungsraum profitieren. Nach dem Semesterende verschwindet das erarbeitete Wissen in der Regel in der Schublade und uns erwarten Klausuren und Hausarbeiten. Je nach räumlicher Nähe zum Untersuchungsraum gibt es zwar ab und an Präsentationen vor Akteur*innen im Projektgebiet, aber auch das dort erhaltene Feedback findet seinen Weg höchstens indirekt in das nächste Semester.
Ein erster Schritt wäre also, sich konsequent um die Präsentation von Projektergebnissen vor beteiligten Akteur*innen außerhalb des universitären Kontexts zu bemühen. Dass es dafür auch Motivation und Kapazitäten bei diesen externen Personen braucht – keine Frage. Es ist in diesem Zusammenhang auch eine Überlegung wert, Projektarbeiten auf zwei Semester auszudehnen. Natürlich würde das größere Umstrukturierungen und Mehraufwand für die betroffenen Lehrstühle bedeuten. Auf der anderen Seite würde nach dem ersten Semester, in dem eine eher explorative und analytische Annäherung an den Projektgegenstand mit abschließender Diskussion vor Ort erfolgt, im zweiten Semester eine vertiefte Auseinandersetzung ermöglicht werden, die deutlich über das hinausgeht, was sonst im Verlauf eines Semesters erarbeitet werden kann. Auch inhaltlich würde sich der Fokus von einer anteilmäßig aufwändigen Bestandsaufnahme auf die Er- bzw. Überarbeitung von Konzepten o.ä. verschieben.
Organisatorisch muss es sich auch nicht zwangsläufig um auf zwei Semester ausgedehnte Projekte handeln, es könnten auch zwei Projekte mit abweichenden inhaltlichen Zuschnitten anhand eines Gebiets angeboten werden. Durch eine stärkere Rückkopplung der (Zwischen-)Ergebnisse in das Projektgebiet und die Notwendigkeit, Projektergebnisse für Außenstehende verständlich aufzubereiten, wird darüber hinaus das Bewusstsein dafür gestärkt, dass wir als Expert*innen aus einer Außenperspektive sprechen.
Streitet euch!
Mehr Reallabore!
Anton Brokow-Loga und Gunnar Grandel beschreiben ihr Verständnis der Praxis von radikaler Stadt und Universität.
Ein*e unserer Interviewpartner*innen in den Lausitzen stellte die geringe transformative Wirkung der in der Region angesiedelten Hochschulen und deren komplexer Organisationsstruktur in Verbindung. Vielleicht ist es da gerade die in der Methode verankerte zeitlich und räumlich klar begrenzte transdisziplinäre Zusammenarbeit von Universität und Zivilgesellschaft, die für organisatorisch schwerfällige Institutionen wie Hochschulen, in deren Zeitrechnung der student life cycle nur eine Zeigerumdrehung ausmacht, passende Ankerpunkte bietet. An der Bauhaus-Universität Weimar bietet sich – wie für einige Student*innen ja bereits Realität – eine Auseinandersetzung mit dem Thüringer Wald an. Aufgrund des stark überregionalen Einzugsgebiets der Universität hatte die Mehrheit der Student*innen vor ihrem Umzug nach Weimar kaum Kontakt mit dieser Region.
Um auf den ersten Vorschlag zurückzukommen: Gebiete, die einen Strukturwandel erleben, eignen sich besonders gut für derartige Studienprojekte – in unserem Fall die Lausitzen: „Wenn jemand weiß wie disruptive Prozesse gehen, dann dürfen Sie sich sicher sein, sind das die Lausitzer“ (Interview Landesentwicklung 2020). Hier geht es um große Umbrüche – politisch, ökonomisch, gesellschaftlich … – wodurch sich auch eine Bühne eröffnet, auf der transformative, über tradierte Denkmuster hinausgehende Vorschläge gemacht werden können. Und wer ist dafür prädestiniert, wenn nicht Student*innen?
Hier kannst Du einen Kommentar hinterlassen!
Brokow-Loga, Anton und Gunnar Grandel. 2019: Andere Räume machen. Zur Praxis von radikaler Stadt und Universität. In: Idee Inhalt Form. Beiträge zur Gestaltung der Gegenwart. Weimar: Bauhaus-Universitätsverlag: 83–87. Online verfügbar hier.
Selk, Veith; Jörg Kemmerzell und Jörg Radtke. 2019. In der Demokratiefalle? Probleme der Energiewende zwischen Expertokratie, partizipativer Governance und populistischer Reaktion. In: Radtke, Jörg; Weert Canzler; Miranda A. Schreuers und Stefan Wurster (Hg.). Energiewende in Zeiten des Populismus. Wiesbaden: Springer VS: 31–66.
Strohschneider, Peter. 2014. Zur Politik der transformativen Wissenschaft. In: Brodocz, André et al. (Hg.): Die Verfassung des Politischen. Wiesbaden: Springer VS: 175–192.
Voß, Jan-Peter. 2013. Wo transformative Wissenschaft hinführen könnte. In: Ökologisches Wirtschaften 2.2013: 28–29.